All You Need Is – Less

mit Nina Heitmann

All You Need Is – Less

Ich besitze einen dicken schwarzen Winterparka und einen waldgrünen. Beide sind vom skandinavischen Outdoor Spezialisten, sehen cool  aus und halten schön warm. Außerdem habe ich eine Snowboardjacke von Carhartt, die ist zwar fünfzehn Jahre alt, aber immer noch top in Schuss und mindestens zwei hübsche Wollmäntel. Man kann wirklich nicht sagen, daß ich frieren muß und trotzdem kreisen meine Gedanken seit Tagen um einen Daunenmantel den ich bei Uniqlo anprobiert habe. Oh, so kuschelig warm und dann noch superstylisch zu meinen Jeans und den weißen Stan Smith… Ich ringe mit mir. Eine Bekannte war neulich auf der Suche nach warmen Sachen für einen afghanischen Flüchtlingsjungen, der alleine hier angekommen war. Anstatt meine übervolle Garderobe weiter zu belasten, könnte ich dem Jungen eine warme Jacke kaufen und mein Karma dabei gleich ein wenig aufbessern… Ich beobachte, wie mein innerer Geizkragen enger wird. Was ist denn da los? Würde ich mein Konto tatsächlich eher für etwas schröpfen das ich gar nicht brauche, als um jemandem in Not zu helfen?! Ich muß meinem Gewissen Gott sei Dank erst einmal nicht weiter auf den Zahn fühlen, denn mein Mann hat inzwischen etwas für den Jungen besorgt. Ich schlendere lieber zu Uniqlo, um nur mal kurz zu schauen, ob es den Mantel dort noch gibt, und ob er wirklich so toll ist, wie ich denke. Es kribbelt, ich bin auf der Jagd, die Beute im Visier. Den Fang eintüten und nach Hause schleppen, das fühlt sich doch so gut an …!

Haben wollen! In der Yogasprache, auf Sanskrit, heißt dieses Haben – wollen  „Raga“, übersetzt mit „blindes Verlangen“ oder „Gier“ und zählt zu den fünf übelsten Störenfrieden (Klesha) auf dem Weg in die Glückseligkeit. Auch dazu gehören: Vorurteile (Dvesha), ein beschränktes und unwahres Selbstbild (Asmita), Ängste (Abhinivesha) und feste aber falsche Vorstellungen, die eine tiefere Einsicht in die Wirklichkeit verhindern (Avidya). Die Klesha machen uns zum Spielball unserer Vorlieben und Abneigungen, unserer Sorgen und Nöte und halten uns auf der persönlichen Ebene so beschäftigt, daß wir keinen Zugang zu dem ewigen Frieden tief in uns finden.

Allerdings ist „Blindes Verlangen“ nicht unbedingt etwas, das man sich selbst gerne attestiert. Es ist in dem Zusammenhang ja auch etwas übertrieben. Oder? Ich überlege doch nur, mir einen Daunenmantel zu kaufen. Aber …Warum ist der eigentlich so unschlagbar günstig? Was weiß ich über die Produktionsbedingungen und über die Herkunft der Daunen, Stichworte: Stopfmast/ Lebendrupf? Und: will ich ÜBERHAUPT Daunen tragen, egal woher?

Nachdem ein kleiner Strahl Bewusstheit in mein Raga umdämmertes Gemüt gefallen ist, entblättern sich weitere Zusammenhänge: Niedrige Preise machen Kauflust. Das wiederum steigert die Produktion, mehr Enegrie wird verbraucht. Weil es billig ist schmeissen wir es schneller weg, wir versinken im Müll, aber weil shoppen glücklich macht, blenden wir das aus…
Tatsächlich blenden wir ALLES aus. Nämlich daß wir dabei sind den ganzen Karren vor die Wand fahren. Wagt man einen Blick in die Welt stehen einem die Haare zu Berge. Und was ist Schuld an der ganzen Misere? Die Klesha, ganz vorne dabei die Gier, Raga. Unser Drang zu erobern, zu besitzen und zu vergrößern, ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Beim Einzelnen genauso wie bei ganzen Nationen, und das, obwohl am Ende nichts übrig bleibt! Am Ende sind wir einfach tot, und das letzte Hemd hat bekanntlich keine Taschen. So viel Leiden für nichts, für Staub und Asche! Es ist höchste Zeit, da auszusteigen! Aber was kann ich kleines Menschlein da alleine schon bewegen?

Gerade lese ich ein Buch über Tenzin Palmo, die als zweite westliche Frau überhaupt, in den frühen 1960`ger Jahren zur buddhistischen Nonne ordiniert wurde. Ihr ganzes Bestreben gilt der Entfaltung des menschlichen Potentials zur Vervollkommnung. Auf diesem Wege hat sie zwölf Jahre (!!!) allein in einer zwei mal drei Meter großen Höhle im Himalaya gelebt und meditiert. Zwölf mal acht Monate andauernder Winter mit Temperaturen bis Minus 35 Grad Celsius ohne einen einzigen Daunenmantel! Das Buchcover zeigt nur ein unscharfes Foto von Tenzin Palmo, aber ihre Augen strahlen wie Nebelscheinwerfer und berühren mein Herz.

Ich werde still. Mein Gemüt klärt sich auf, es ist wie aus dem freiem Fall plötzlich schwerelos zu sein. Ich fühle deutlich: Ich bin ein untrennbarer Teil des Ganzen. Wenn Ich mich verändere, verändert sich Alles! Ich hänge den Mantel zurück an die Stange. Heiterkeit erfüllt mich. Es ist diese Art von grundlosem Glück, die keinen Auslöser braucht, die einfach aufsteigt, wenn man losläßt. Ich fühle mich frei.

Das Leben ist schön, auch im grauen Berliner Winter. Ich habe alles was ich brauche und wandere gelöst vorbei an Schaufenstern, in denen Sachen hängen, die mich nicht interessieren.
Klamotten, Elektroartikel, Nippes, Einrichtungsgegenstände und dann:   Yoga – Bedarf. Matten, Blöcke, Bags und Tights und… mein Blick bleibt an einem Oberteil hängen auf dem steht: All You Need Is Less!
„Genau!“, denke ich. Vielleicht brauche ich nur noch dieses super coole Shirt!

––––––––––––––––––––––––––––––––––––

Nina Heitmann
Nina unterrichtet seit über zehn Jahren Yoga in laufenden Kursen, auf Yogareisen und Events. Für Wanderlust schreibt sie über verschiedene Yoga Themen in Bezug auf die heutige Zeit und sucht nach einem unverkrampften Zugang zu den alten, spirituellen Werten.
Mehr über Nina:
-> Facebook